Frankfurt/Berlin – Kaum jemand bemerkt sie oder macht sich Gedanken über sie, dabei regeln sie fast alle Lebensbereiche: Normen, geschaffen vom Deutschen Institut für Normung (DIN). Das wird 100 Jahre alt.
Normen sorgen dafür, dass Container aus Asien auf deutsche Frachter passen, Schuhgrößen klar definiert sind, Backstationen im Supermarkt die gleichen Hygienestandards erfüllen und wir beim Tanken im Ausland die Benzinart auch ohne Sprachkenntnisse per Bild entziffern können.
Alleine für Schuhgrößen gibt es drei Standards des
Deutschen Instituts für Normung (DIN), das am 10. November sein 100-jähriges Bestehen feiert. Die Regeln «Schuhgrößen; Grundlagen eines Größensystems», «Schuhgrößen; Längenstufung» und «Schuhgrößen; Weitenstufung für Damen- und Herrenschuhwerk» stammen aus den 70er Jahre und wirken klischeehaft für deutsche Bürokratie. Doch ohne sie wäre auf Schuhmaße im Handel kein Verlass. Ein Schuh in Größe 42, der sonst wie angegossen sitzt, könnte dann von anderen Herstellern zwicken oder Blasen verursachen.
Die Standards fürs Fußgewand sind nur drei von knapp 34 000 Normen, welche das DIN kreiert hat. Mit rund 450 Beschäftigten veröffentlicht das Institut mehr als 2000 neue und überarbeitete Normen pro Jahr und schafft veraltete ab – etwa die für Gewebeschreibbänder für mechanische Schreibmaschinen. «Standards müssen immer den Stand der Technik widerspiegeln», sagt DIN-Chef Christoph Winterhalter.
Das Institut in Berlin ist das größte weltweit. Rund 30 Prozent der in Europa geltenden Normen entstehen unter deutscher Sekretariatsführung. Mit über 32 000 Experten aus Wirtschaft und Forschung, von Verbraucherseite und der öffentlichen Hand hat das DIN Fachleute für jeden Lebensbereich. Normen sind aber keine von oben befohlenen Vorschriften. Erst nach Anstoß von außen, etwa von Firmen, macht sich das DIN an die Arbeit – falls die Norm nötig ist. «Komplexe Standards können bis zu drei Jahren dauern und 300 Seiten umfassen», sagt Winterhalter. Andere passten auf zehn Seiten.
An Bedeutung gewannen Normen mit der Industrialisierung, die Standards im Handel und eine effiziente Produktion in den Fabriken erforderte. So gab es zur Jahrhundertwende mitunter 25 Varianten für ein Ventil einer Dampflok. Nach und nach entstanden in Europa Normungsorganisationen – in Großbritannien (1901), Frankreich (1916) und Deutschland (22.12.1917), hierzulande als Normenausschuss der deutschen Industrie im Kaiserreich. Die erste DIN-Norm war 1918 jene zu Kegelstiften, einem Verbindungselement im Maschinenbau.
Noch heute gebe es die meisten Normen in Maschinenbau und Elektrotechnik, sagt DIN-Chef Winterhalter. Dazu kämen viele im Bau, etwa für Statik. Zwar kostet die Nutzung von Normen die Wirtschaft Millionen. Doch Standards liefern einen großen Beitrag zum Wachstum: Etwa 0,8 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts oder rund 15 Milliarden Euro, zeigen Berechnungen der Technischen Universität Berlin.
Auch der globale Warenverkehr würde ohne Normen ausgebremst – etwa, weil Container aus Asien in Hamburg nicht auf deutsche Frachter oder Züge gehievt werden könnten. 147 Staaten weltweit unterstützen den dafür geltenden Standard. «Ohne Normen wäre der Welthandel in diesem Ausmaß nicht vorstellbar», sagt Knut Blind, Experte für Standardisierung an der TU Berlin. Auch der Europäische Binnenmarkt könnte seine ökonomischen Vorteile ohne Normen nicht voll entfalten.
Doch hinter den spröden Standards stecken handfeste Interessen. Viele große Firmen nutzten Normen, um ihre Standards im Markt zu etablieren oder mit Verweis auf bestehende Normen auch staatlichen Regulierungen zuvorzukommen, sagt Blind. «Normen sind ein strategisches Werkzeug.»
Mit der Globalisierung schwindet indes die Zeit nationaler Vorschriften. Bereits 85 Prozent der hierzulande erarbeiteten Normen sind laut Winterhalter internationaler Natur und würden bei zwischenstaatlichen Organisationen wie der Genfer Internationalen Organisation für Normung (ISO) eingebracht.
Alles lässt sich aber nicht angleichen. So spüren Urlauber im Ausland, dass die Kabel ihrer Rasierer oder Föhns oft nicht in die Steckdose passen. «Manche Standards sind historisch gewachsen», sagt Winterhalter. «Wenn Staaten an ihnen festhalten wollen, kann man sie natürlich nicht zwingen.» Oft mache eine Angleichung auch wirtschaftlich keinen Sinn.
Künftig dürften aber Normen noch wichtiger werden, meint Professor Blind. Denn standen einst einzelne Produkte im Fokus, geht es nun um Vernetzung – etwa in der Industrie 4.0. «In der Digitalisierung sind Standards entscheidend, etwa bei Informations- und Kommunikationssystemen.» Habe die Industrialisierung Normen groß gemacht, sei heute das Internet der Treiber, sagt Blind. «Da geht es um die Märkte der Zukunft.»
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(dpa)